Der ganz normale Franz
1.KAPITEL
 

Franz liegt mit seiner Freundin Roswitha im Bett. Eben, als er versucht, sie zu streicheln, steht sie auf: „Du, ich koche jetzt einen Kaffee!“ Franz erschrickt. „Du mußt munter werden“, sagt sie, „du sollst nicht immer so faul im Bett liegen!“ Franz, der eben eine Erektion hat, wird sich dieser plötzlich bewußt und sagt: „Du hast recht! Das hatten wir eigentlich schon immer vorgehabt, früh aufstehen, das ist wichtig und gesund!“ Nun stehen beide auf, trinken Kaffee und beginnen, die Wohnung zu putzen. Das hatten sie sich nämlich schon seit vierzehn Tagen vorgenommen. Dann putzen sie sich beide die Zähne. Der Tag muß gut beginnen. „Wie wäre es, Roswitha zu küssen ?“ denkt Franz und versucht, ihr unvermittelt beim Zähneputzen einen Kuss auf den Mund zu drücken. Als er eben seinen Kopf in der Richtung zu ihrem Mund bewegt, sagt Roswitha: „Da schau her!“ Franz ist fast noch mehr aufgeregt als Roswitha, deren gellender Tonfall sehr markant ist. Er dreht sich um und findet nichts. „Da schau!“ sagt sie wiederum und zeigt mit dem Finger auf ein Kügelchen aus Stanniolpapier, „da ist noch immer so ein Dreck!“
„Ich hab´geglaubt, du wolltest mir etwas sagen !“ denkt Franz, sagt es aber nicht laut. „Weißt du, wer ein richtiger Mann war“, hebt Roswitha erneut an, „der Novalis war ein richtiger Mann, der hat die Frauen geliebt!“ „Geh, der Novalis!“ entgegnet Franz, „der muß jetzt für alle deine Enttäuschungen herhalten !“ Roswitha schweigt. Es herrscht eisige Stille...

 „Du, Roswitha“, will Franz jetzt erzählen, „stell dir vor, ich bekomme jetzt eine Rolle im Theater.“Roswitha scheint nicht zu reagieren. Franz weiß nicht, ob sie überhaupt zuhört. So redet er weiter: „Das ist nur eine kleine Rolle, die habe ich von einer alten Bekannten.“ „Du hast ja wirklich nur Bekannte. Alle Frauen, die du kennst, sind nur deine Bekannten.“ sagt sie und macht ein mieses Gesicht. „du bist wirklich ein Hans Dampf in allen Gassen !“ Und obwohl Franz beteuert, dass er diese Frau schon seit Jahren nicht mehr gesehen habe, diese außerdem die Freundin seines besten Freundes gewesen sei, bekommt Roswitha ein noch mieseres Gesicht, ihre Unterlippe schiebt sich vor und läßt sie sagen: „Den ganzen Haushalt kann ich alleine machen. Genial !“ Franz denkt nach. „Das ist nicht wahr“, schreibt sein Hirn, „ich habe den Boden aufgerieben und die ganze Wäsche gewaschen, auch das Geschirr“, denkt er bei sich. Aber sollte er sich auf eine Argumentation einlassen ? Selbst, wenn er Roswitha dies beweisen könnte, würde sie nicht aufhören, ihm dies vorzuhalten. Franz versucht, Roswitha zu helfen. Er stellt sich an die Spüle und beginnt, Geschirr abzuwaschen. „Jetzt stellst du schon wieder das ganze Geschirr in die Abwasch!“, ärgert sich Roswitha, „eben wollte ich zu kochen anfangen, ich kann das da überhaupt nicht brauchen!“. „Weißt du, was ich für eine Rolle bekomme?“ fragt Franz. „ich spiele einen Minister!“ Roswitha scheuert bereits zum dritten Mal die Badewanne. Franz hebt nochmals an. „Ich spiele in einer Politsatire. Mein Name ist Rosenstingl. Ich bin der Außenminister der Dritten Republik, der Mann mit der längsten Auslandserfahrung. Das ist eine relativ kurze Rolle. Denn die meiste Zeit bin ich nicht auf der Bühne, sondern im Ausland!" Roswitha lacht aber nicht. Franz schleicht sich hinaus und raucht eine Zigarette.

Als er wieder zurückkommt, fragt Roswitha: „ Woran denkst du eigentlich, wenn du mich liebst ?  Denkst du dann überhaupt an mich ?“ Franz sagt eine Weile nichts. Dann beginnt er, langsam zu sprechen. „Ich muß dir etwas gestehen!“ Roswitha spitzt die Ohren. „Ich liebe die Reichsbrücke. Ich gehe sehr oft über diese Brücke. Dennoch denke ich nicht immer an die Reichsbrücke, wenn ich über die Reichsbrücke gehe.  Ich denke nicht nur an alle Brücken dieser Welt, sondern auch an alle Menschen, die über sie gehen – oder auch nicht. Manchmal denke ich auch an gar nichts, wenn ich über die Reichsbrücke gehe, oder an eine Straßenbahn oder an dich. Dennoch liebe ich die Reichsbrücke. Dessen bin ich mir ziemlich sicher. Ich finde, man muß nicht immer an den Ort denken, an den man sich ohnedies gerade befindet.“
Da lacht Roswitha. „Du bist ja ein Philosoph“. „Das muß ich auch sein!,“ erwidert Franz, „wenn ich das Leben ernst nehmen will“. Er gibt ihr einen Kuß und sie lacht erneut.

 Dann lieben sie sich. Wenig später meint Roswitha: „Du schaust schlecht aus, Franz! Ich glaube, du solltest nicht so viele Eier essen, davon kann man nämlich Darmbakterien bekommen. Außerdem solltest du nicht in der schmutzigen Panozzalacke baden gehen und rauchen solltest du auch nicht soviel ! Weißt du, was ich im Kurier gelesen habe ? Raucher sterben im Durchschnitt um zehn Jahre früher als Nichtraucher.“ „Weißt du was ?“ entgegnet Franz leicht angewidert „Ich freue mich zwar, wenn du an mich denkst, aber ich liebe es nicht so sehr, wenn du für mich denkst!“ „Naja, ich mache mir eben Sorgen !“

 Franz freute sich ein wenig, dass sich jemand ein bißchen um ihn sorgte, oder das zumindest behauptete. Leicht hatte er es nie gehabt mit den Frauen, der Franz. Oder zumindest hatte man ihm das eingeredet, oder seinem inneren Zweifel nicht widersprochen. Andere meinten ihn wiederum besonders zu fördern, wenn sie ihm sagten, wie intelligent er doch sei. Trotz allem, wie Franz argwöhnte und einige seiner Förderer auch durchblicken ließen. In der Schule hatten sie ihn den „Fertigen“ genannt. Und das vor allem, weil er, stets geistesabwesend, in einer eigenen Welt zu leben schien. Oft war er gehänselt worden, weil er ihm Turnsaal so ungeschickt  war, dass er nicht einmal über  die Stege der umgedrehten Langbänke gekommen war, ohne bereits vor der Mitte seitlich abzukippen. Die Schuhbänder hatte er zumeist offen, denn lange hielten seine Maschen nicht.

  Wenn seine Mitschüler demonstrierten, wie stark sie seien, konnte er nicht mitreden, der Franz. Etwa der Pürk, der hieß auch Franz, sowie der Franz, darum vergaß er oft dessen Vornamen, das war der, der am lautesten schrie. Dabei fehlte es auch nicht an Seitenhieben für den Franz, von dem der Pürk sagte, er könne nicht raufen, er sei ein halbes Mädchen, ja ein ganzes Mädchen, wie er im Nachhinein verstärkte. Franz konnte zunächst nicht verstehen, was daran negativ sein sollte, ein Mädchen zu sein. Seine Schwester war ja auch ein Mädchen. Aber offenbar war das hier so. Der Pürk, das war der beste Fußballer. Sagte man zumindest. In der Schule gab es nur einen besseren Fußballer, das war der Grahofer. Aber der ging bereits in die 4b-Klasse. „Gemma, gemma, keine Müdigkeit vorschützen!“ pflegte er zu sagen, wenn ein Mitglied seiner Mannschaft sich etwas zögerlich verhielt. Wenn jemand den Ball zu leicht berührte, konnte es sein, dass er schrie: „Heast, bist du a Weib wurdn ?“Einer den er sehr oft anschrie, war ein kleiner strohblonder Brillenträger, der Vorlaufer hieß. Mit ihm fühlte Franz sich verwandt. Zwar versuchte er, ihn zu verachten, indem er ihn etwa scherzhaft „Forleule“ nannte. Aber irgendwie verachtete er auch sich selbst, weil er nicht so gut Fußball spielen konnte wie der Pürk, oder wie dieser zumindest unwidersprochen behauptete.

 Im Turnsaal mußte Vorlaufer freilich die Brille abnehmen und auch er hatte seine Aggressionen. Da rannte er oft sinnlos auf irgendwelche Personen los. Einmal war Franz sein Opfer. Der langsame Franz fürchtete so etwas. Und Vorlaufer rannte genau auf ihn los. Doch irgendwie erfaßte Franz den richtigen Augenblick, beiseite zu treten und Vorlaufer zum rechten Zeitpunkt in die Mauer rennen zu lassen. Dieser blutete aus der Nase und ging zum Herrn Lehrer, um sich darüber zu beklagen. Dieser aber  ließ sich beim Unterricht nicht stören und  wimmelte ihn irgendwie ab. Franz lachte innerlich. Schadenfreude war ihm nicht fremd. Angeblich soll es im Englischen gar kein Wort für „schadenfroh“ geben, dies sei so typisch österreichisch. In Wien gibt es sogar eine Schattenfrohgasse.

Franz interessierte sich nur wenig für das Treiben und die Auseinandersetzungen seiner Mitschüler. Viel mehr erregten die unausgesprochenen Details, die er am Rande beobachten konnte, seine Aufmerksamkeit. Wenn Schulkameraden in der Pause rauften, oder, was sie besonders gern taten, mit der eigenen Schultasche versuchten, die Schultasche des Gegners aus der Hand zu schlagen, stellte er sich gerne abseits und las. Etwa die Liste, auf der die Namen der Professoren alphabetisch aufgereiht waren. Seltsame Namen hatten die: Einer hieß Lager, ein anderer Landkammer. Und wenn dies im Freien geschah, liebte er nichts mehr, als die Grünpflanzen, die seitlich aus den Häuserfronten und dem Asphalt heraussprossen, zu beobachten. Manchmal hatte er auch Angst, sich zu versündigen. Einmal ging er, der Neunjährige um das Eck seiner Schule, da kam ihm eine fremde Frau entgegen, ein exotischer Typ, vielleicht eine Polin,  die sprach ihn an: „Du bist ein goldenes Kind, schön bist du, schön!“ Über dieses Ereignis mußte er einige Tage nachdenken. Einmal brauchte Franz eine halbe Stunde in die Schule, obwohl der Schulweg normalerweise nur fünf Minuten dauerte. Er mußte immer wieder umkehren, da er meinte, auf eine Taube gestiegen zu sein. Da redete ihn ein Polizist an: „Gehst du nicht in die Schule ?“ fragte er Franz. Dieser antwortete gar nichts, er blickte nur auf die Nummer 486, die an der Uniform angebracht war.

 Nachdem Franz seine Aufgaben gemacht hatte, ging er in den Park. Dort waren fast immer  Schulkolleginnen und Kollegen, etwa Ruth Frankl, seine Sitznachbarin, die er liebgewonnen hatte. Einmal trug diese einen kurzen roten Lederrock. Da bemerkte Franz plötzlich ein angenehmes Gefühl, das er schon irgendeinmal wahrgenommen hatte und er schrieb dies nicht seiner Hose zu. Da, wo heute Neubauten stehen, gab es in Wien noch zahlreiche Bombenruinen, die zum Spielen einluden.

 Zunächst wollte Franz mit den anderen Kindern gar nicht spielen. Franz war nämlich feige. Franz traute sich nicht, die Rutsche im Börsepark, die dem Atomium in Brüssel nachgebildet war (diese Rutsche steht schon längst nicht mehr) hinunterzurutschen, er traute sich nicht Rollschuh- und Rad zu fahren, und schon gar nicht, zu schwimmen. In Turnen hatte er, der sonst immer nur „Sehr gut“ gewohnt war, eine ganz schlechte Note, zumeist ein Genügend. Die Kinder aber lachten ihn aus und einige meinten sogar, er wäre nicht normal. Franz aber grinste nur blöd und sagte :“I waaß eh, dass i net normal bin !“, so als wäre das eine schicksalhafte göttliche Fügung, die aber durch das eigene Wissen darüber teilweise entschuldigt würde.

 Einmal gab es großes Aufsehen im Park, als Franz, den viele für blöd hielten, sich doch einmal etwas trauen wollte, sich auf das runde Dach der Rutsche legte, abrutschte und mit dem Kopf auf dem Asphalt aufschlug. Franz hatte ein Loch im Kopf und wurde ins Spital gebracht.

 Eine Woche später kam Franz wieder auf den Spielplatz im Börsepark. . Eine Bekannte hatte seiner Mutter nämlich empfohlen, dass Franz oft dort hingehen solle. „Damit er andere Kinder kennenlernt!“ hieß es. Da fragten ihn die Kinder: „Was ist denn los mit dir? Was hast du denn gehabt ?“ „Ein Loch im Kopf!“ sagte Franz. Die meisten Kinder hörten sich das mit einer sehr ernsten, starren Miene an. Einige aber begannen zu tuscheln, sie flüsterten es einander lautstark ins Ohr, dass sogar der Franz es hören konnte: „Der Franz hat ein Loch im Kopf !“
Franz war das peinlich. Am liebsten wäre er nicht da gewesen. „Das kann nur mir passieren!“, dachte Franz, „zuerst komme ich abnormal zur Welt und dann bekomme ich auch noch ein Loch im Kopf !“ Und erhoffte, das Ruth Frankl ihn bedauerte. Aber ausgerechnet die war heute nicht im Park.

Seine Eltern hätten es gerne gehabt, dass er normal ist, der Franz. Sie wollten nicht, dass er sich wie ein Sonderling verhielt. Darum versprach ihm seine Mutter, jedesmal, wenn er mit einem Kind gespielt hatte, würde er fünfzig Groschen bekommen. Andererseits würden ihm, wenn er schlimm war, wenn er etwa seine Hausübungen nicht gemacht habe, oder, wenn er vorlaut oder schadenfroh gewesen wäre, diese wieder abgezogen. Allmählich entwickelte sich in Franz das Prinzip der Kontoführung. Für kleinere Vergehen wurden ihm manchmal auch nur zwanzig Groschen abgezogen. Vor allem durfte Franz eines nicht: Den Namen einer seiner Schulkolleginnen erwähnen. Diese hieß Renate Maszar. Diese eher schlechte Schülerin, eine Brillenträgerin mit einem sehr flachen Gesicht,  hatte er schon des öfteren nach der Schule nach Hause begleitet. Seinen Eltern hatte der Franz des öfteren erzählt, wie häßlich diese Renate sei. Sie hätte ein Gesicht wie ein Steyr-Fiat  Multipla 600. Als Franz begann, Englisch zu lernen, verwendete er häufig das Wort mother (Mutter) und sein Vater, der nicht Englisch konnte, glaubte, er habe Maszar gesagt und zog dem Franz wiederum dreißig Groschen ab.

Den Namen Franz hatten seine Eltern gewählt, weil schon sein Vater Franz hieß. Das war außerdem  der normalste Namen, der seinen Eltern eingefallen war. Nur Josef, das wäre genauso normal gewesen, aber so hieß der Vater nicht. Der Name Karl schien Franz nur mehr fast so normal. Manchmal bewunderte Franz insgeheim die Hausmeisterstochter, die Jennifer hieß. Einmal hatte er mit ihr und Renate Maszar im Börsepark Fangen gespielt und Jennifer hatte ihn nicht ein einziges Mal erwischt, weil sie so fettleibig war. Über Renate Maszar pflegte immer nur Franz stereotyp zu wiederholen, wie häßlich sie sei. Und ein größerer Bub aus dem Park meinte erstaunt: „Des gibt´s jå net, so schiach kånn die jå går net sein, de muaß jå scho wieder sche sein!“ Renate und Jennifer standen sich häufig gegenüber, klatschten gegenseitig in die Hände und sagten: Ras pan tri, samma milli, samma ma, akabemba!“ was Franz seltsam fand. Außerdem fühlte er sich ausgeschlossen.

Ganz normal wollte er sein, mehr wollte er eigentlich gar nicht. Dazugehören, das schien ihm das Wichtigste zu sein. Und dass er nicht mehr von den anderen Kindern ausgelacht würde. Wegen seiner Lederhose etwa, einer speckigen Knickerbocker, die er von seinem Vater bekommen hatte,  war er schon in der Schule aufgefallen. Und einmal – im Börsepark hatten ihn Buben, die um eine Klasse älter waren als er, in einem Gebüsch die Knickerbocker heruntergezogen und ihn verprügelt. Das durfte nicht mehr vorkommen. Aber da sich Franz so schwach fühlte, suchte er nach einem Halt. Von den Mädchen wollte er sich auch nicht mehr in Schutz nehmen lassen, so blieben ihm einige Vorbilder. Der Pürk, der beste Fußballer seiner Klasse war so einer. Häufig wurde nach dem Turnunterricht in der Umkleidekabine große Reden geführt. Franz, der froh war, diesmal nicht das Ziel der Angriffe zu sein, sondern die gegnerische Fußballmannschaft, begann alsbald auch mitzureden und lautstark zu deklamieren, was für Schwächlinge die wohl sein. Wohl lobte  er auch einige Spieler, aber nur dann, wenn der Pürk  diese bereits positiv hervorgehoben hatte.

Manchmal wäre der Franz schon gerne erwachsen gewesen. Die Erwachsenen sind friedlicher, dachte er mitunter. Oder, wenn schon nicht erwachsen, dann doch zumindest so alt wie Christian, sein Bruder . Dieser war um acht Jahre älter. Wohl war ihm dieser manchmal unheimlich, zumal er Dinge tat, die sich der Franz nie getraut hätte, wie zum Beispiel Schwarzfahren. Doch er zahlte auch keine Strafe. Erst letzte Woche war er erwischt worden, der Christian. Und dann habe er dem Kontrollor gesagt, er wohne in Wien 22, Zwergenweg 22. Das war natürlich gar nicht wahr. Aber Mahnung würde nun wohl keine kommen.
Der hatte schon ein eigenes Geld, der Christian. Franz beneidete ihn, doch irgendwie war er auch ganz froh, dass er noch ein Kind war, da konnte er wenigstens nicht sündigen. Ja, vieles wollte er gar nicht wissen, der Franz. Er vertraute vielmehr seinen Eltern, die würden schon alles in Ordnung bringen. In der Schule war er ja ganz gut, der Franz, das tat er seiner Mutter zuliebe. Und das schien auch die Hauptsache zu sein. Nur in Turnen hatte er ein Genügend. Sein Lieblingsfach war Religion. Da brauchte man nur brav zu sein. Franz war gerne brav. Da stellte er sich vor, dass seine Mutter und seine Oma ihn lobten.
 Damals ahnte der Franz noch nicht, was das bedeutete, mit jemand ins Bett zu gehen. Doch er spürte manchmal für einen kurzen Moment ein undefinierbares angenehmes Gefühl, das er schnell wieder vergaß. Nur wenige Jahrzehnte später sollte sich dies geändert haben und vor allem in Gegenwart von Roswitha schien er nun  das Fehlen dieses angenehmen Gefühles zu fürchten. Nicht selten führte dies nämlich zu einem Ausbleiben der Erektion. Der Franz hätte damit leben können, aber Roswitha pflegte in solchen Situationen, den Fernseher so laut aufzudrehen, dass der Franz nicht schlafen konnte und ein böses Gesicht zu machen. Häufig war die Erektion ausgeblieben, wenn Franz das getan hatte, was als besonders männlich betrachtet wurde: Nämlich mit seinen Freunden, dem Krcal Karl und dem Deplan Peter einige Krügel Bier zu trinken. Der Krcal Karl hatte schon des öfteren, kurz nachdem er gesagt hatte: „Auf ex“, in einer Sekunde eine Flasche Bier ausgetrunken. Zuvor hatte er noch lautstark verkündet, dass er mit 39 Grad Fieber „noch könne“. Und der Franz sei kein Mann, weil er nicht mit dem Krcal Karl Lokale ausräumen gehen wollte. Gestern habe er das „Bücke dich“ ausgeräumt, und dann habe er  den Gästen „eingeschenkt“. Da konnte der Franz nur wortlos staunen. Den Karl kannte der Franz schon seit der Volksschulzeit. Bereits damals hatte er den Franz eingeschüchtert, als dieser auf dem Nachhauseweg von der Schule war. „Franz, hast an Zehner ?“ fragte er des öfteren, wobei er seine Muskeln spielen ließ.Dabei trat er ganz nahe an Franz heran, ballte unter seiner Nase eine Faust, ohne verbal aggressiv zu werden und meinte: „I glaub, du brauchst wem, der da die Knochen stärkt!“  Franz traute sich nun nicht mehr, nein zu sagen und suchte kleinlaut nach einer Münze.   Und das traute sich Franz irgendwie bis heute nicht, wenn ihn der Karl anrief und ihn fragte, ob Franz nicht mit ihm in „die Gärtnerinsel“ gehen wolle. Das kam sich meist darauf hinaus, dass der Franz die gesamte Zeche bezahlte und der Karl ihm versprach, sie ihm beim nächsten Mal zurückzugeben.

 Von seinen Lehrern wurde Franz stets als „hochintelligent“ eingestuft. Von seinen Eltern hatte er zu Weihnachten einen Multimediacomputer geschenkt bekommen. Trotzdem war er nicht in der Lage zu sein, seine Schuhbänder zuzubinden und so schleifte er diese durch das halbe Klassenzimmer. Andere Schüler stiegen darauf – unabsichtlich oder absichtlich – wobei sie Franz nicht selten zu Sturz brachten. Der Franz trug dicke Brillen, er hatte acht Dioptrien. Ein Glas hatte ihm  bereits der Firla Gustav mit einem Medizinball eingeschlagen. Manchmal musste Franz soviel denken, dass er darüber seine Umgebung vergaß. Aber wenn die Frau Lehrerin zu dem Geistesabwesenden sagte: „Franzi, du bist ein wandelndes Lexikon“, erfüllte ihn das mit innerer Genugtuung. Und der Religionslehrer hatte ihn einmal gefragt: „Franz, wo bist du ? Bist du im Internet ?“ Er hätte ihn auch fragen können, ob er im Himmel sei, aber dies hielt der Geistliche für eine leichte Gotteslästerung. Manchmal musste Franz soviel denken, dass er Weinkrämpfe bekam und mit dem Kopf zornig gegen eine Mauer stieß. Besonders nach dem Religionsunterricht war dies der Fall. Der Religionslehrer hatte nämlich einmal gesagt, man könne nicht nur in Worten und Werken sündigen, sondern auch in Gedanken. Nun hatte Franz Angst, sich zu versündigen und traute sich, nicht mehr zu denken. Dadurch fing er aber erst recht zu denken an. Der Verzweifelte nahm sich nun fest vor, nur noch das zu denken, was seine Eltern und Lehrer ihm vorgedacht hatten. Gerne hätte er gedacht: „Am liabsten wa i teppat!“ , aber nicht einmal dies traute er sich bis zu Ende zu denken und so begnügte er sich damit, nicht alles wissen zu müssen. Manchmal glaubte der Franz, nicht normal zu sein. „Du, Mama, bin ich ein normaler Bub ?“ fragte er seine Mutter. „Du solltest halt mehr mit anderen Kindern spielen !“ antwortete diese. Und, wie zu beweisen, dass er ein ganz normaler Bub sei, fragte er seine Mutter, ob sie ihm das Spiel kaufe, das er in einem Spielwarengeschäft gesehen hatte und das „Jede Minute ein Unfall!“ hieß. „Das ist ja schrecklich , so ein Spiel !“ sagte seine Mutter und verzog ihre Miene. Franz aber fragte immer wieder nach diesem Spiel, von dem er wusste, dass nur richtige Buben es spielen. Wie zum Beispiel der Pürk, der hatte einmal erzählt, dass er es zu Hause habe.

 Am besten ging es dem Franz, wenn er in seinem Bette lag und träumte, während seine Mutter in der Küche das Geschirr abwusch. Da brauchte er sich nichts zu denken und da konnte er nicht sündigen. Allmählich begriff der Franz, dass man leichter durchs Leben ging, wenn man zwar nicht dumm war, aber wenn man zumindest so tat als ob. Und er begann nun auch, seine Eltern Dinge zu fragen, die er ohnedies bereits wusste. Dabei fühlte er sich in kindlicher Geborgenheit. Es waren dies zumeist Bruchstücke aus den Erzählungen seiner Eltern waren. „Du, wer war denn das, der Silbermayr  ?“ pflegte er häufig zu fragen, wenn er mit seinen Eltern spazierenging. Der Silbermayr  war ein Arbeitskollege seines Vaters im Milchwirtschaftsfonds. Der hatte über hundertfünfzig Kilo. Der hatte jeden Tag, bevor er seinen Dienst im Milchwirtschaftsfonds in der Wipplingerstraße antrat, bereits sieben große Bier getrunken. Einmal war er auch in der Wohnung gewesen, denn er hatte den Vater von Franz informiert, dass dieser am nächsten Tag Frühdienst habe und nicht wie ausgemacht, Spätdienst. Diese Frage konnte Franz mindestens zehnmal hintereinander stellen. „Du, wer war denn das, der Silbermayr ?“
Die Stelle beim Milchwirtschaftsfonds hatte der Vater übrigens  durch Protektion bekommen. Er war nämlich Gründungsmitglied der Österreichischen Volkspartei und hatte schon an der Gründungsversammlung im Jahre 1945 im naheliegenden Schottenstift teilgenommen. Seiner Frau jedoch, die sich ebenfalls bewerben wollte, wurde ausgerichtet, sie solle es erst gar nicht probieren, sie sei nämlich  evangelisch und dort würden nur Katholiken aufgenommen.

Doch wenn Franz alleine war, machte er sich so seine eigenen Gedanken. Und beobachtete die Leute. Einmal etwa sah er im Börsepark eine junge Frau, die zuerst neben einem Mann gesessen war und sich dann auf eine andere Bank gesetzt hatte, auf der  eine ältere Dame gesessen war. „Die Männer, die san was Lästiges!“ sagte die junge Frau. Und die alte Frau antwortete: „Zu meiner Zeit war das nicht so!“ „Da müssen Sie aber schon sehr alt sein!“ meinte die Junge. Franz war erstaunt und er nahm sich vor, wenn er groß sein würde, würde er nicht lästig sein. Er, der Franz, würde nicht so ein Mann werden.

Wenn Franz einen Hund sah, dachte er zunächst,  er würde „Hau, hau  !“ bellen. So hatte er es nämlich von seiner Mutter gehört. Erst später erfuhr er durch die Micky-Maus, dass ein Hund „Wau wau!“ bellt.
Schon früh begriff der Franz, dass es wichtig war, normal zu sein. Seine Mutter hatte ihm auf der Straße Leute gezeigt, die nicht normal waren. So stand etwa an der Ecke Wipplingerstraße-Renngasse  vor dem Gebäude der Gebietskrankenkasse eine Frau, von der Mutter sagte, dass sie wahrscheinlich nicht normal sei. Die hatte ein Kopftuch auf und saß da inmitten ihrer Habe, die sie auf sechs Nylonsackerln verteilt hatte. Auf die Idee, dass diese Frau bloß arm hätte sein können, kam die Mutter von Franz nicht.
Oft hatte der Franz selbst Angst irr zu sein Franz versuchte sich einzureden, alles sei so, wie es ist. Nicht einmal das war nämlich gewiss. Allmählich schien ihm die Trägheit der Wortsprache bewusst zu werden. Die Welt erschien ihm oft nur mehr wie ein riesiges Baukastensystem, deren Elemente man untereinander vertauschen konnte, ohne je den inneren Gehalt der Elemente zu erfahren. „Normal“, dachte der Franz, ist ein Mensch, der die Dinge sieht, wie sie sind. Wenn jemand vor einem Haus steht, muß er auch ein Haus sehen. Wenn er etwas Anderes sieht, ist er nicht normal und hat Halluzinationen. Die Beatles sind auch nicht normal, also so etwas Verrücktes. Franz nahm sich ganz fest vor, brav zu bleiben und weder ein Beatle noch ein Gammler zu werden.
Des öfteren hatte Franz  einen blonden Mann beobachtet, der über einen Meter achtzig groß war und einen Kopf  wie ein siebenjähriges Kind hatte. „Du; Mama, ist der nicht normal ,der Mann ?“ fragte er. „Der ist nur ein bißchen infantil!“ war die Antwort. Und Franz nahm sich vor, niemals in seinem Leben so infantil zu werden.
Auf jeden Fall nahm Franz sich vor, ein guter Mensch zu werden. Brav wollte er sein. Doch das gelang ihm nicht immer. Einmal hatte ihn Renate Maszar besucht und beim Spielen blöd angeredet, und da hatte er sie mit den Füßen in den Bauch getreten.
Aber das machte dem Franz weniger Sorgen, denn das hatte er hinter sich. Viel mehr fürchtete er, sich in Zukunft zu versündigen. Auf dem Schulweg bildete er sich ein, einen Spatzen zertreten zu haben und so mußte er nach einer kurzen Strecke des Weitergehens umkehren, um sich zu vergewissern, dass das nicht so war.

Als Kind ging Franz  jede Woche zur Beichte. Denn- im Gegensatz etwa zu seinem sogenannten Freund Karl lebte er in der ständigen Angst, sich versündigt zu haben. Böses gedacht, gesprochen oder getan zu haben. Und von den Sünden die man bereits getan hatte, konnte man sich befreien, indem man zur Beichte ging. Aber was war mit den Sünden die man noch nicht begangen hatte und die man erst im Laufe seines Lebens begehen würde ? Die konnte man doch noch nicht beichten, oder? Ein Umstand, den Franz sehr bedauerte. Wenn Franz ein schlechtes Gewissen hatte, versuchte er, zum Kind zu werden. Manchmal begann er, unvermittelt zu kichern und Dinge zu fragen, die er ohnedies schon wusste. „Du, wer war denn eigentlich der Silbermayr ?“
Franz arbeitete den Beichtspiegel durch, schrieb sich die Sünden heraus, die er begangen hatte und machte sich auf den Weg in die naheliegende Schottenkirche. Im Beichtstuhl erklärte ihm der Geistliche, er solle sehr auf die Sittlichkeit achten und auch in seinem Alter sei schon das sechste Gebot sehr wichtig. Dann sprach er den Franz nach einer eindringlichen Rede von seinen Sünden frei und gab ihm zur Buße noch drei Vaterunser und fünf Gegrüßet-seist-du-Maria!  auf, die der Franz  sogleich in der Kirche verrichtete. Dann ging er aber schnell nach Hause und legte sich sofort ins Bett, um seine Seele für den nächsten Tag rein zu halten, da das ein Sonntag war, und er zur Kommunion zu gehen gedachte. Am besten schien es dem Franz, wenn er überhaupt niemand begegnen würde, denn dies würde die Versuchung zu sündigen, nur noch steigern.
Einen Freund des Franz, den Ernsti hatte der Geistliche nicht von seinen Sünden freigesprochen,  der hatte nämlich im Prater mit Freunden eine Radtour gemacht und dann waren sie zu einer Würstchenbude gegangen, hatten das Coca-Cola nicht bezahlt und waren mit den Rädern schnell wieder fort gefahren. Im Beichtstuhl hatte ihn der Priester gefragt, ob er dass nie wieder machen wolle und der Ernsti hatte gesagt, er bereue es nicht. Hoffentlich würde dem Franz das nicht auch einmal passieren.
Je älter der Franz wurde, um  so mehr gelangte er zu der Einsicht, dass es das Beste sei, gar nichts zu tun, denn so könnte er auch keine Fehler machen. Das Verhalten seines Bruders Christian war ihm dabei stets ein Vorbild. Meist lag dieser auf seiner Couch und blätterte in Illustrierten, ganz früher Micky-Maus und Wunderwelt, später die Rasselbande und schließlich BRAVO und Underground. Der lag auf dem Bett und dachte an gar nichts. So wollte er auch werden, der Franz. Er dachte bereits über einen Beruf nach, bei dem diese Tätigkeit wohl im Vordergrund stehen würde.
Am liebsten wäre ihm ein Beruf, bei dem er den ganzen Tag nur schauen brauchte, ein einfacher Beruf wie etwa Straßenkehrer schien ihm das Richtige zu sein oder er könnte ja auch zum Staat gehen. Dort scheibe man  eine ruhige Kugel, wie er schon oft gehört hatte. Aber einstweilen war er ja noch jung, der Franz.
Mit seinem Schulkollegen, dem Zloklikovits, war er zum erstenmal beim Theseustempel gewesen. Eigentlich war er ja schon viel früher beim Theseustempel gewesen. Bereits als zweijähriges Kind hatte er mit seinen Eltern auf  diesen übergroßen Stufen, auf die an Regentagen die grüne Patina des Daches heruntertropfte,  gespielt. Und heute noch pflegte er in  Begleitung seiner Eltern am Sonntag auf dem Weg zur Meierei mit begehrlicher Abscheu vorbeizugehen und hatte längst insgeheim das Treiben der Hippies und Gammler, aber auch der Wiener und Zuhälter beobachtet. Jetzt würde er sich an Wochentagen selbst zu diesen setzen, wobei ihn die Vorstellung plagte, wie seine Eltern dies verabscheuen würden.
Hier saßen sie alle, die Rauschgiftsüchtigen.  Die Männer mit den langen Haaren und die Frauen mit den Miniröcken. Und gegenüber auf den grünen Sesseln saßen deren Kritiker. „Heast, den schau da ån!“ sagte eine ältere Frau mit Brille, als eben ein Mann mit besonders langen Haaren vorbeiging. Und eine eher seriöse Dame mit grünem Hut und Feder empörte sich: „Zu unserer Zeit hätts des net gebn!“ „Ja, das passiert, wenn es den Leuten zu gut  geht !“ bestätigte ein dickerer Mann im Hubertusmantel, der eine starke Brille trug. „Arbeiten tuans nix, aber Rauschgift nehmen, des kennans!“ Franz bemerkte nun auch zwei ältere Frauen, die sich mit drei jungen Mädchen unterhielten. „Na, wo habts denn des Rauschgift ?“ sagten die Kriminalbeamtinnen, die eine Miene machten, als seien sie eben aus dem Geschlecht ausgetreten: „Seids eingladen wordn ! Na, schene Kavaliere san des !“ Daneben saß ein fast glatzköpfiger dünner Mann mit Gitarre, der gab ein Gratiskonzert. „Oh, where have you been, my blue-eyed son, oh, where have you been, my darling young one...“ Währenddessen kletterte auf der anderen Seite des Theseustempels ein Mann waagrecht zwischen zwei Säulen hoch. Dieser Mann wurde von den umstehenden Männern Samson gerufen. Das war unmittelbar hinter der Statue, die der Kraft und Schönheit unserer Jugend gewidmet ist. Franz stand daneben, schaute zu und tat, als würde er dazugehören. Einmal war er nämlich bereits von einem Typen namens Alfie, den er nicht kannte, als „Sonntagshippie“ bezeichnet worden. Gerade das war er aber nicht, der Franz. Denn am Sonntag ging er ja mit seinen Eltern in die Meierei. Unter der Woche war er Hippie.

Ein anderes Mal war Franz wieder beim Tempel. Es war an einem trüben Mittwoch nachmittag.  Nur einige wenige Leute waren diesmal beim Tempel. Da drüben saß eine Gruppe junger Männer, von denen er einen schon öfters gesehen hatte. Der neben ihm Sitzende winkte Franz zu. Zunächst tat der erschrockene Franz, als hätte er nicht gesehen. „Oida, wüßt was rauchen ?“ fragte nun der, den Franz schon öfters gesehen hatte. „Na danke!“ sagte Franz. Er hatte Angst. „Na geh´was is , håst Angst ?“ Franz fühlte sich ertappt, nicht nur, dass er Angst hatte, auch das die Anderen das zu merken schienen oder nicht nur schienen. Und so tat er so, als hätte er keine Angst. Langsam setzte er sich zu der Runde. „Des is der Gary!“ stellte der Rufer diesen seinen Freund vor, den Franz schon oft gesehen hatte  „des is der Alfie und i bin der Tripperbazillus! Und wie haaßt du ?“ „I bin der Franz!“ sagte Franz. Mehr sagte er nicht . Nur einmal versuchte er abzuwehren, als er einen Joint angeboten bekam. Dann tat er seine ersten zwei Züge. „Geh´ziag ånständig ån !“ feuerte ihn der Tripperbazillus an. Franz versuchte indessen, so wenig wie möglich zu rauchen, aber ohne, dass es die anderen merkten. Hatte er doch von Leuten gehört, die nach einmaligem Haschischrauchen rauschgiftsüchtig geworden waren. Hoffentlich würde er jetzt nicht rauschgiftsüchtig werden, der Franz.

Franz blickte in Richtung Rathaus. Da hörte er von der anderen Seite ein merkwürdiges Geräusch. Trommeln und Stimmengewirr, das immer näher kam. Allmählich konnte er einige Silben heraushören: „Hare Krishna, hare krishna, krishna krishna hare hare. Hare rama, hare rama, rama rama , hare hare.Hare Krishna, hare krishna, krishna krishna, hare hare“. Er wandte sich um und sah ein Heer orangegekleideter glatzköpfiger Männer und Frauen. Diese boten vegetarische Snacks an und verteilten eine Zeitschrift, die „Wie es ist“ hieß. Gegen eine Spende konnte man auch eine Bhagavad-Gita bekommen. Die „Bibel der Hindus“. Das war aber eine besondere Bhagavad-Gita, die hieß nämlich „Bhagavad-Gita wie sie ist“. Franz warf einen scheuen Blick auf die Zeitschrift und dachte: „Ja, so muss es also sein !“ Ein orangegekleideter Glatzkopf sprach den schüchternen Franz an, sie diskutierten und der Hare Krishna-Anhänger meinte, sie seien gegen Rauschgift. Da wunderte sich Franz sehr. Hier waren doch alle für Rauschgift, oder ? Viele, die in Indien gewesen waren, waren besonders für Rauschgift. Aber hier beim Theseustempel  gab es auch Jesus-People, die waren gegen Sex, obwohl beim Tempel doch alle für Sex waren und deswegen auch schon oft von der Presse kritisiert worden waren. Einer hatte dem Franz vor kurzem erzählt, er habe mit seiner Freundin bei den Jesus-People einen Schlafplatz gesucht. Es sei ihnen aber verboten worden, miteinander zu schlafen, da sie nicht verheiratet waren. Manche Bewegungen verboten Sex und Drogen gleichermaßen wie etwa auch die Hare Krishna und stellten es mit Gewalt  gleich. Das war also eine Art Dreiheit des Bösen: Sex, Drogen und Gewalt. Für die war das alles eins. Der Franz aber wußte ohnedies noch nicht, was das sei, denn er hielt sich für noch zu   jung. Aber die Erwachsenen, so meinte er bei sich, würden dies schon wissen.

Als Franz etwa einen Monat lang den Theseustempel fast jeden Wochentag besucht hatte, sah er plötzlich einen Mann mit langen Haaren dort, der den Theseustempel auf dem Innengang stets umkreiste, dabei schaute er, ob Mädchen da waren, wenn ihm eine gefiel sagte er: „Pippihendi !“. „Der traut sich was !“ dachte Franz. Und war eine größere Runde beisammen, begann dieser Mann, der sich Blondel nannte und schwarze Haare hatte, anzuheben und G´stanzln zu singen:

„Jå, auf der See, då is wås los
Då schiabt der Hatzer den Matros´
Durt wetzt der Steuermann den Kapitäään
Jå, auf der See, då is es schän !

Zwa Nonnen lagen in an Bett –jessasna-
Die fingerlten sich um die Wett´ -jessasna-
Då sågt die Rechte zu der Linken-jessasna-
Geh´riach, wia meine Finger stinken-Jessasna!

„Jå, auf der See, då is wås los
Då schiabt der Hatzer den Matros´
Durt wetzt der Steuermann den Kapitäään
Jå, auf der See, då is es schän !

Zwa Knaben gingen in an Wald – jessasna
Die Haselnüsse reiften bald – Jessasna
Sie rissen sich ein paar herunter – jessasna
Doch Håselnuss wår kane drunter, jessasna !

„Jå, auf der See, då is wås los
Då schiabt der Hatzer den Matros´
Durt wetzt der Steuermann den Kapitäään
Jå, auf der See, då is es schän !

„Servas Pippihendi !“ sagte Blondel zu einem Mädchen, dass auf den Stiegen saß. „Servas, Blondel ! „ erwiderte dieses höflich, „Wie geht´s da ?“
„I håb an Mund, der wås net beißt
I håb an Arsch, der wås net scheißt
I håb a Nudl, wås net steht
Und du frågst mi, wia´s ma geht ?“

war Blondls komplexe Antwort. Franz hielt diese Sprüche für ausgesprochen ordinär. Doch sogar die Mädchen kicherten über Blondels Späße, was freilich nicht hieß, dass sie sich von ihm auch berühren ließen, eine Diskrepanz, die Blondel zunächst zu befremden schien. Scheu ging Franz etwa drei Meter hinter dem singenden Blondel hinterher. Dieser  hielt sich für politisch relevant und verteilte manchmal Ausgaben des NEVEN FORVM, nicht  zuletzt, um mit Frauen ins Gespräch zu kommen. Jetzt hob er wieder an:
„Der Pfårrer von Bozen
Håt ågrahmt a Fotzen
Weu der Bischof von Brixen
Eahm derwischt håt beim Wixen !

Hollodaridio, hollodri-hoits-eich-zåm
Hollodaridio, wås sågst denn då ?“
Eine Säule weiter stand eine ältere Frau mit Brille, die behauptete, in einem früheren Leben Buddha gewesen zu sein. Blondel ließ dies kalt, nicht jedoch Franz, da dieser befürchtete, Halluzinationen zu haben. Franz beobachtete einen Stein in der Stufe des Theseustempels, dann beobachtete er sich selbst.  Nun fragte er sich: „Franz, siehst du den Stein ? Das ist ein Stein. Ein Stein ist ein Stein und der wird immer ein Stein bleiben. Genauso ist es mit deinem Vater und deiner Mutter, der Schule, den Bäumen und den Menschen. Ein guter Mensch ist immer ein guter Mensch und ein Bösewicht ist immer ein Bösewicht! Alles ist so, wie es ist vom Anfang der Welt bis zum Ende.“
In der Schule hatte Franz gehört, der Philosoph Friedrich Nietzsche sei in geistiger Umnachtung gestorben, auch Franz befürchtete insgeheim, er sei geistig umnachtet, da er selbst die Dinge nicht immer so sehen konnte, wie er von Anderen hörte, dass sie waren. Zunächst wusste er nicht genau, was „geistig umnachtet“ überhaupt sei, er stellte sich dabei so etwas wie ewige Finsternis vor. Einige Male hatte er in der Schule gehört, wie Schüler und Professoren über ihn tuschelten, er habe ein Rad zuviel. Er selbst hielt dies zwar für Luxus, doch irgendwie blieb das unangenehme Gefühl, die Anderen könnten doch recht haben oder zumindest glauben, Recht zu haben und ihn in ein Irrenhaus sperren. Als Franz zum ersten Mal das Lied „Manic Depression“ von Jimi Hendrix hörte, erzählte er davon seiner Mutter. Diese sagte: „Das ist ja schrecklich, über so etwas ein Lied zu machen, die Verbrecher und die Sandler, die sind oft manisch-depressiv !“ Nun wurde Franz neugierig und begann, solche Menschen und solche, die er dafür hielt, zu beobachten. Und da schien es gerade beim Theseustempel viele davon zu geben. Einer seiner Schulkollegen, der Erich, der sich kleidete wie Batman, indem er stets einen schwarzen Schnürlsamtanzug trug und auch einen schwarzen Umhang, hatte immer wieder betont, dass er Azrael sei, der Engel des Todes , und wiederholt festgestellt, dass er das Normale hasse und er sich schon oft gewünscht habe, schizophren zu sein. Franz hielt dies für vermessen. Und einmal hatte er eine LP in die Schule mitgebracht, die hieß OFF II-Hallucinations. Da waren Lieder von Werwölfen drauf .  Das war nicht mehr normal. Auf einer anderen LP von White Noise gab es ein Lied über die Hölle. „Electric Storm in Hell“. „Das ist eine Tripmusik“, meinte Erich. Franz staunte.
Wenige Jahrzehnte später schien Franz den Wahnsinn fast wieder vergessen zu haben. Da erklärte ihm plötzlich Ludwig, der sechzehnjährige Sohn von Roswitha, er sei der stärkste Mann der Welt, es würde ihm genügen, alleine auf der Welt zu sein und diese zu beherrschen. Da zweifelte Franz erneut an seiner Normalität. Einmal sagte Ludwig zu ihm, er sei größer als Napoleon. Da erstarrte Franz und dachte: „Wie kann sich der das anmaßen ?“ Später erfuhr er aber, dass Napoleon nur einen Meter fünfzig groß war, Ludwig hatte also recht gehabt.